Zum Hauptinhalt springen

Als der Tierschutz laufen lernte – 30 Jahre Tierschutz in Sachsen


Man stelle sich ein Land im Umbruch vor – auf der Straße täglich Demonstrationen und Kundgebungen, in Rathäusern, Betrieben und Kirchen „Runde Tische“ als neue Form der Machtausübung, Parteien und Armee in Auflösung, die Wirtschaft vor dem Kollaps, das Geld immer weniger wert, die Menschen schwankend zwischen Hoffnung und Resignation, aber die staatliche Einheit Deutschlands greifbar nahe – so sah es aus Ende 1989/Anfang 1990 im heutigen Sachsen.

In dieser einmaligen historischen Situation meldeten sich unabhängig voneinander an verschiedenen Stellen des noch nicht existierenden Freistaates Sachsen Menschen mit dem gleichen Ansinnen zu Wort:

 

„Wir wollen uns organisieren, eine Gemeinschaft gründen, die für den Schutz und das Wohl aller Tiere eintritt!“

 

Am schnellsten ging es dabei in Stolberg (Erzgebirge) und Chemnitz, das damals noch Karl-Marx-Stadt hieß. Hier fanden schon Anfang Dezember 1989 öffentliche Zusammenkünfte statt, mit dem Ziel, einen Tierschutzverein zu gründen. Nur durch wenige Tage getrennt, erfolgten dann im März 1990 in diesen beiden Städten die offiziellen Gründungsversammlungen und im Juni die Eintragungen in die Vereinsregister. Die ersten Tierschutzvereine im Osten Deutschlands nach dem Wendeherbst und nach dem Vorbild bundesdeutscher Vereinsregularien waren gegründet. Nun hatten auch im Osten die Tiere wieder eine Stimme!

Aber diese Stimme war noch sehr schwach, denn es fehlte praktisch an allem, was eine erfolgreiche Tierschutzarbeit ausmacht.

Am schmerzlichsten war das Fehlen von Tierheimen. Lediglich das Städtische Tierheim in Dresden verdiente die Bezeichnung „Tierheim“.  Andere Einrichtungen dieser Art waren eher als Notquartiere oder Verwahrstationen einzustufen, so etwa ein alter Bauernhof in Chemnitz, und meist in einem schlechten baulichen Zustand. In einigen Landkreisen gab es nicht einmal solche Quartiere. Dort nutzten die Kreistierärzte meist private Zwingeranlagen oder Tierpensionen, etwa in Rochlitz und Auerbach. Einige dieser Objekte hatten unter Tierfreunden einen zweifelhaften Ruf wegen fehlender Transparenz des Tierbestandes.

Schmerzlich vermisst wurde bis zur Deutschen Einheit auch ein Tierschutzgesetz. In der DDR gab es kein Tierschutzgesetz. Selbst das Wort „Tierschutz“ fand sich in keiner Rechtsverordnung. Eine Bestrafung wegen Tierquälerei war nicht möglich. Tierquälerei und „sozialistisches Menschenbild“ passten eben nicht zusammen. Aber natürlich gab es auch in der DDR Tierquälerei. Eine Verurteilung war bestenfalls wegen „assozialem Verhalten“, z.B. bei, wie wir heute sagen, „animal hording“ möglich. Das Strafmaß reichte dabei bis zu 500 Mark der DDR, also etwa einem halben Monatslohn. Außerdem gab es die Möglichkeit der Verurteilung zur Ableistung gemeinnütziger Arbeitsstunden, wobei aber die Betreuung solcher Personen ein echtes Problem war, weil meist für nichts zu gebrauchen.

In Ermangelung einer gesetzlichen Grundlage wurde sogar versucht, einen Bezug auf das 1933 erlassene Reichstierschutzgesetz herzustellen. Aber in der Regel gab es keine Verfahren, die an die Justiz abgegeben wurden.

Ebenso fehlte es an einer Ausbildung der Studenten der Veterinärmedizin auf dem Gebiet Tierschutz. Eine Vorlesungsreihe oder sogar das Fach Tierschutz gab es nicht an den beiden tierärztlichen Fakultäten in Leipzig und Berlin. Die äußerst geringen akademischen Aktivitäten waren an den Lehrstuhl „Staatsveterinärkunde“ gekoppelt und damit den ökonomischen Zielen der sozialistischen Massentierhaltung untergeordnet. Im Kleintierbereich gab es keine nennenswerten Publikationen zu Tierschutzfragen, bestenfalls kleine Beiträge zur Tierhaltung und Tierhygiene, etwa in der „Bauernzeitung“. Aber selbst diese Artikel zielten auf Effektivität und Nutzen der Tierhaltung, nicht aber auf das Wohl der Tiere ab.

Das Fehlen einer ethisch geprägten wissenschaftlichen Ausbildung des tierärztlichen Nachwuchses wirkte sich fatal auf die Einstellung vieler praktischer und besonders der Kreistierärzte aus. Auch die strukturelle Einordnung der Kreistierärzte in die Abteilung Landwirtschaft der Räte der Kreise trug diesem System der Unterordnung des Tierschutzes unter die Belange der industrialisierten  Landwirtschaft Rechnung. In vielen Kreisen gab es deshalb anfangs fast unüberbrückbare Differenzen zwischen den aktiven Tierschützern und den Kreisveterinären, was einer progressiven Zusammenarbeit enorm schadete, gerade in der Gründungsphase der jungen Tierschutzvereine. Über viele Jahre hinweg gab es in Sachsen nur einen einzigen Kreis-/Amtstierarzt, der Mitglied eines Tierschutzvereins war. Erst ganz allmählich, durch das Nachrücken junger, besonders TierärztInnen, in den sächsischen Veterinärämtern, die nach der Wende ausgebildet wurden, änderte sich die Einstellung zum Tierschutz und damit auch das Verhältnis zu den Tierschutzvereinen. Mancherorts dauerte dieser Prozess mehr als 20 Jahre!

Aber auch den Tierschützern fehlte es an fundiertem Wissen. Wo sollte es auch so schnell herkommen? Sehr oft war ihr Wirken von Emotionen, aber wenig Kenntnissen geprägt, etwa beim Thema Streunerkatzen oder Stadttauben. Dabei wirkte sich auch das Fehlen guter Praxishandbücher  direkt für Tierschutzvereine negativ aus. Es war deshalb Anfang 1990 eine gigantische Leistung des Deutschen Tierschutzbundes, die im Aufbau befindlichen Vereine  mit einer Flut von Informationsmaterial zu versorgen und die sich konstituierenden Vereinsvorstände zu schulen. Wegweisend dafür war das 1. Gesamtdeutsche Tierschutztreffen im Frühjahr 1990 in der damals noch recht neuen Akademie für Tierschutz in Neubiberg bei München, an dem auch Tierschützer aus Plauen, Stolberg, Dresden und Chemnitz teilnahmen. Als erste Vereine Ostdeutschlands erklärten Rostock, Stolberg und Chemnitz ihre Beitrittsabsicht zum Deutschen Tierschutzbund. Es folgten weitere Treffen in Bernau und Eisenach, dann schon mit einer Vielzahl von Vereinen auch und gerade aus Mitteldeutschland.

Von Nutzen war auch die bereits in den Wendemonaten begonnene Schließung von Patenschaften zwischen Vereinen aus Ost und West. Die allererste Patenschaft geht auf Aktivitäten des langjährigen Chefredakteurs der Tierschutzzeitschrift „du und das tier“ Harvey T. Rowe zurück, der damals auch Vorsitzender des Tierschutzvereins Starnberg war. In diesem Fall profitierten die Chemnitzer von einem sofort einsetzenden Wissenstransfer und auch erheblichen finanziellen Unterstützungen. So ging der erste Tierschutztransporter, finanziert durch den DTB und den TSV Starnberg, ein nagelneuer VW-Polo in blau-weiß, in das „Sächsische Manchester“.

Die gerade gegründeten Vereine wurden sofort in die Pflicht genommen. Dabei waren es besonders zwei Probleme, die sie über Gebühr forderten: 1. die große Zahl von in die alten Bundesländer  umsiedelnden Personen zurückgelassenen Haustieren aller Art und 2. die gewaltige Anzahl freilebender Katzen, die durch massenweise Schließung von Schul- und Großküchen, Kasernen, Industriebetrieben und Kleingartenanlagen über Nacht ihrer Versorgung beraubt wurden. In den Großstädten gingen fast täglich Meldungen bei den Vereinen ein, dass ganze Katzenrudel versorgt werden sollten, dass die Tiere zu verschwinden hätten, dass Katzen hochtragend waren oder Würfe mit Jungtieren gefunden wurden.

Meist blieben die Probleme an den Vorstandsmitgliedern hängen, die sich kraft ihres jungen, ungewohnten Amtes veranlaßt sahen, nach Lösungen zu suchen, aber nicht selten bald überfordert waren, weil es keine Basis in Form einer funktionierenden Tierheimstruktur gab. Hilfsmöglichkeiten, der Anspruch an sich selbst und die Erwartungshaltung anderer Personen klafften weit auseinander. Vielerorts kam es schon bald in den Vereinen zu Verstimmungen, Zerwürfnissen und auch zu Spaltungen.

Im Ringen um die beste Lösung für das Wohl der Tiere zerbrachen so nicht selten Freundschaften. Ein Beispiel dokumentierte sich beim Versuch, einen Landestierschutzverband zu gründen. Schon die Wahl des Tagungsortes, die Zooschule in Dresden, löste Grundsatzdiskussionen aus. Darf man als Tierschützer in einen Zoo gehen? Würde der sich gerade entfaltende Tierschutzspross diese ideologische Überfrachtung verkraften und sich ein pragmatischer Umgang mit gesellschaftlichen Streitthemen durchsetzen?

Trotz aller Widrigkeiten und Differenzen innerhalb der Tierschutzbewegung wurde die zentrale Frage „Wie kommen wir schnell zu funktionierenden Tierheimen?“ nicht aus den Augen verloren. Die Kreativität kannte dabei keine Grenzen. Mit Wissen, Glück, Beziehungen und ganz viel Beharrlichkeit gelang es letztlich den jungen Vereinen im gesamten Freistaat nach und nach, entwicklungsfähige Objekte zu sichern oder vorhandene Objekte in freie Trägerschaft zu übernehmen.

In der nächsten Phase stand die qualitative Aufwertung der Liegenschaften im Mittelpunkt. Wieder waren Einsatz, Eigeninitiative und ehrenamtliches Engagement gefragt, wobei Fördermittel des Freistaates ganz wesentlich zur Durchführung von Baumaßnahmen beitrugen. Aber endlich hatte der Tierschutz in der Region eine Hausnummer bekommen und die Tierheime wurden mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Arbeit schnell zu festen Größen in der Struktur der Kreise und Großstädte, so wie Polizei, Feuerwehr oder Krankenhaus.

Es zeigte sich, dass auch im Osten Deutschlands der Tierschutzgedanke durch den größten Teil der Bevölkerung unterstützt und eingefordert wird und die Aufnahme als Staatsziel in das Grundgesetz geteilt wird. Klar wurde aber auch, dass Tierheime und ihre Leistungen nicht zum Nulltarif zu haben sind. Eine Reihe von Städten und Gemeinden hat sich auf den Weg gemacht, mit einer fairen und auskömmlichen Mitfinanzierung nach Einwohnergleichwerten dem Rechnung zu tragen. Andere Kommunen haben da nach Nachholebedarf … Auch sie zu einer solidarischen Finanzierung der mühsam gewachsenen Tierheimlandschaft in Sachsen zu veranlassen, ist das derzeit dringenste Problem. Es bedarf einer baldigen Lösung.

Die Rückschau auf 30 Jahre Tierschutz in Sachsen zeigt deutlich: Der Weg war steinig, aber der Tierschutz in Sachsen hat das Laufen gelernt!

 

Steffen Mehl, Tierschutzverein Chemnitz und Umgebung e.V.